Missbrauch, spiritueller
„Du bist zu nichts verpflichtet, sondern frei. Aber wenn du meinen Anweisungen, die direkte Eingaben von oben sind, nicht folgst, wirst du die Konsequenzen in deinem Leben spüren.“ So oder so ähnlich könnte die Reaktion eines „Gurus“ auf eine kritische Anfrage zu seinem Tun lauten, und dabei entlarven, wie missbräuchlich das Verhältnis zu seinen „Schüler*innen“ eigentlich ist.
Das Phänomen des spirituellen Missbrauchs – manchmal auch als „geistlicher“ oder „geistiger“ Missbrauch bezeichnet – ist so alt wie Religionen und Weltanschauungen selbst. Der Begriff „Spiritueller Missbrauch“ und die kritische Auseinandersetzung mit diesem Phänomen hingegen sind relativ jung, sodass es noch keine allgemein anerkannte Definition dafür gibt. Zumeist wird „Spiritueller Missbrauch“ als Sammelbegriff für verschiedene Formen emotionalen Missbrauchs im Kontext geistlichen, spirituellen oder religiösen Lebens verwendet. Klar ist jedoch, dass es sich dabei um eine explizite Form von Machtmissbrauch handelt.
Eine mögliche Definition lieferte der Grazer Moraltheologe Walter Schaupp bei einem Symposium zum Thema „Geistiger Missbrauch" im Herbst 2019 in Graz1. Für ihn ist spiritueller Missbrauch dann gegeben, wenn Personen, die über religiös-spirituelle Autorität verfügen, unter Verwendung religiös-spiritueller Motive grenzüberschreitend Macht ausüben und es dadurch zu negativen Folgen für die Betroffenen kommt. Diese Definition benennt wesentliche Merkmale, die zur Systematik spirituellen Missbrauchs gehören:
- Personen verfügen über eine in der Gruppe anerkannte religiös-spirituelle Autorität. Diese religiös-spirituelle Autorität beschränkt sich nicht nur auf die oberste Führungspersönlichkeit, sie kann auch auf einer mittleren Führungsebene oder bei einzelnen charismatischen Persönlichkeiten, die keine Führungsaufgabe innehaben, gegeben sein.
- Zur Durchsetzung ihrer Autorität verwenden sie religiös-spirituelle Motive. Diese Autorität kann allein dadurch gegeben sein, dass jemand ein religiöses Amt ausübt. Oftmals wird diese Autorität jedoch durch den Verweis auf direkte Eingebungen und Forderungen „von oben“ (von Gott, von Jesus, von einem Erzengel, von einem aufgestiegenen Meister oder sonst einer höheren geistigen Macht) untermauert. Diese Eingebungen und Forderungen werden dann mit einem Gehorsamsdiktum verbunden bei gleichzeitiger Androhung negativer Folgen für das irdische und/oder das ewige Leben des/der Betroffenen, wenn er dem Vorgegebenen nicht Folge leistet.
- Diese Autorität wird grenzüberschreitend ausgeübt. Dabei drängen sie anderen „ihre Wahrheit“ auf und weisen jede Kritik oder Hinterfragung zurück. Sie ignorieren oder brechen Widerstand, sie mischen sich in intime persönliche Angelegenheiten (z.B. Partnerwahl, Berufswahl, Wohnort, …) anderer ein, sie schließen Menschen aus der Gruppe aus, ohne mit jemandem Rücksprache zu halten, sie entscheiden allein und autoritär.
- Für die Betroffenen treten negative Folgen auf. Diese können sein: Angstzustände, Depression, Verlust der persönlichen Würde, Isolierung und/oder Zerstörung alter sozialer Umgebungen und Beziehungen, Verlust der persönlichen (Entscheidungs-)Freiheit, …
Spiritueller Missbrauch zeigt sich in unterschiedlichen Nuancen und Formen. Drei dieser Formen – orientiert an den Ausführungen von Inge Tempelmann2 – sollen hier beispielhaft aufzeigt werden:
- Jemand nutzt die Autorität seines geistlich-spirituellen Amtes aus, um sein negatives und für andere belastendendes Führungsverhalten nicht weiter hinterfragen lassen zu müssen bzw. zu rechtfertigen. Hier ist das Geistliche nur Mittel zum Zweck, um das eigene für andere negative Führungsverhalten zu rechtfertigen. Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn ein Ordensoberer den Mitbrüdern die Mitsprache bei Entscheidungen verweigert und Kritik daran mit dem Argument zurückweist, dass es schließlich seine Aufgabe als Oberer sei zu entscheiden, und die Aufgabe der Mitbrüder jene sei, zu gehorchen.
- Jemand lebt seine persönlichen Machtinteressen dadurch aus, dass er seine Forderungen an religiös-spirituelle Motive knüpft. Er legitimiert sein autoritäres Verhalten pauschal mit „dem Willen Gottes“ oder „dem Willen des Meisters“ bzw. dem Willen irgendeiner „höheren Macht“. Oft werden dafür Zitate aus in der Gruppe anerkannten Texten verwendet oder auch Weisungen, die im Rahmen von „Privatoffenbarungen“ erhalten worden sind. Diese Form von spirituellem Missbrauch findet sich oft in geschlossenen Gruppen, in der eine zentrale Führungspersönlichkeit Menschen um sich sammelt und ihnen sagt, was „falsch“ und „richtig“ ist.
- Eine sehr subtile Form spirituellen Missbrauchs ist die Weitergabe religiöser Lehrinhalte, die Menschen schaden, weil sie einen destruktiven Glauben vermitteln. Unter dem Deckmantel, den anderen nur Gutes tun zu wollen, wird Macht ausgeübt und werden Menschen unter Druck gesetzt. Dies ist wohl die häufigste – weil unbewussteste – Form von spirituellem Missbrauch. Die persönliche Entscheidungsfreiheit in Glaubensfragen wird dabei stark eingeschränkt, indem religiöse Inhalte so vermittelt werden, dass Angst geschürt und Druck aufgebaut wird. Ein Beispiel: Ein Pfarrer besichtigt mit Volksschulkindern im Rahmen einer Kirchenführung ein Bild mit einer „Höllen-Darstellung“. Ein Kind stellt die Frage, wer denn eigentlich in die Hölle komme. Die Antwort des Pfarrers: „Wenn deine Mama nicht mehr mit deinem Papa zusammenlebt, sondern mit einem anderen Mann, dann lebt sie in Sünde und wird in die Hölle kommen.“ Das Kind kommt völlig verstört nach Hause. In der darauffolgenden Nacht nässt es vor Angst, dass die Eltern in die Hölle kommen, ins Bett. Die Eltern sind nämlich geschieden und leben jeweils mit neuen Partnern zusammen.
Ein typisches Merkmal von spirituellen Missbrauch ist, dass Menschen anfangs oft gar nicht bemerken, dass sie auf diese Art und Weise missbraucht werden. Sie sind selbst davon überzeugt, dass alles, was mit ihnen gemacht wird, richtig und gut ist. Erst nach und nach wirken sich die Missbrauchsformen negativ auf ihr Leben und ihr Lebensgefühl aus, und sie spüren, dass sie so nicht mehr weiterleben können und wollen. Meistens fällt es an diesem Punkt bereits sehr schwer, sich den angelernten Gruppenmechanismen und Abhängigkeiten zu entziehen. Der Weg zurück in ein normales Leben ist lang und ohne externe Hilfe oft kaum bewältigbar. Hoffnung gibt, dass mit steigendem Problembewusstsein externe Hilfestellungen therapeutischer und seelsorglicher Art zunehmen, und die großen Religionsgemeinschaften verstärkt in ihrem Einflussbereich präventiv tätig werden.
Literatur
R. Althaus, Geistlicher Machtmissbrauch. Kirchenrechtliche Aspekte, in: Geist und Leben, 91/2 (2018) Nr. 487, 159-169;
Herder Thema, Gefährliche Seelenführer. Geistiger und geistlicher Missbrauch, Freiburg i. Breisgau 2020;
G. Hörting (Hg.), Grauzonen in Kirchen und Gesellschaft: Geistiger Missbrauch, Wien 2021;
Korrespondenz zur Spiritualität der Exerzitien, Um der größeren Freiheit willen… Hinweise für Begleitung bei geistlichem Missbrauch, 69. Jg., Augsburg 2019;
K. Mertes, Geistlicher Machtmissbrauch, in: Geist und Leben 90/3 (2017) Nr. 484, 249-259;
K. Mertes, Geistlicher Missbrauch. Theologische Anmerkungen, in: Stimmen der Zeit 2/2019, 13-22;
I. Tempelmann, Geistlicher Missbrauch. Auswege aus frommer Gewalt, Holzgerlingen 2018;
D. Wagner, Nicht mehr ich. Die wahre Geschichte einer junge Ordensfrau, München 2016;
D. Wagner, Spiritueller Missbrauch in der katholischen Kirche, Freiburg/Basel/Wien 2019.
Helmut Kirchengast, 2021
1 https://www.katholisch.at/aktuelles/128085/symposium-in-der-kirche-auch-missbrauch-im-kopf-verhindern (Abrufdatum: 04.08.21)
2 I. Tempelmann, Geistlicher Missbrauch. Auswege aus frommer Gewalt, Holzgerlingen 2018, 5. Auflage, S 22.