Sekte
Annäherungen an einen vieldeutigen Begriff
Begriffsherkunft
Häresie im Neuen Testament
Die lateinische Kirche
Die Ketzer im Mittelalter
Die Reformation
Die Aufklärung
Im 19. Jahrhundert
Die Religionssoziologie
Die Problemanzeige
Sekten in den USA
Sekten im Islam
Begriffsherkunft
Das lateinische Wort „secta“ bedeutet „Partei“ und benennt eine Gemeinschaft, die sich zu einer bestimmten Überzeugung verpflichtet. Diese kann im Gegensatz zur allgemeinen Überzeugung oder zu anderen Meinungen stehen. Das Wort Sekte leitet sich vom lateinischen Verb „sequi“ - (nach-)folgen - ab.
Es entspricht dem griechischen Wort „hairesis“, das „Wahl“ bedeutet. Damit ist die Übereinstimmung mit einem philosophischen Lehrer, mit einer bestimmten Lehrmeinung und mit einer entsprechenden Lebensweise gemeint. Das eklektische Auswählen (aus mehreren Meinungen) wird unterschieden von der Häresie (die ausschließlich eine Position vertritt)
Häresie im Neuen Testament
In den (paulinischen) Briefen werden die innerkirchlichen Meinungsverschiedenheiten, die die junge Gemeinde zu zerbrechen drohen, negativ als Irrlehren bewertet. In der Apostelgeschichte wird neutral im Sinn von ‚Partei‘ gesprochen.
Die lateinische Kirche
Nach der Legalisierung des Christentums und der Erhebung zur Staatsreligion im 4. Jahrh. bleibt das antike Frevel-Verbot in Kraft. Häresie wird zu einer folgenschweren, rechtsrelevanten Verfehlung. Zur Unterscheidung wird der mildere Begriff „Schisma“, (=Riss), eingeführt. „Häretiker verletzen, indem sie von Gott Falsches denken, den Glauben selbst; die Schismatiker trennen sich durch Feindseligkeit von der brüderlichen Liebe ab, wenn sie auch das glauben, was wir glauben“ (Augustinus). Der Begriff Sekte wird als allgemeiner Überbegriff verwendet.
Die Ketzer im Mittelalter
Die Ketzerei hat einen zweifachen Bedeutungsgehalt: einerseits spricht sie „die Verteidigung von gottlosen Meinungen“ an, wie z.B. Manichäismus, Gnosis oder anderer Häresien; andererseits benennt sie auch eine „innerkirchliche Bewegung, die den kirchlichen Autoritäten den Gehorsam verweigert“. Der Unterschied zwischen einer Sekte und einem kirchlich anerkannten „Orden“ wird im Mittelalter an der Loyalität zum Papst festgemacht.
Die Reformation
Luthers deutsche Bibelübersetzung bleibt der Überlieferung treu: in der Apostelgeschichte verwendet er konsequent den Begriff Sekte, in den paulinischen Briefen verwendet er den Ausdruck „Rotte“, eine ungeordnete Bewegung.
Nach der Legalisierung von drei Konfessionen im Westfälischen Frieden 1648, meint Sekte eine christliche Gemeinschaft ohne reichsrechtliche Legitimation. Eine Sekte steht damit außerhalb der kirchlichen und staatlichen Ordnung.
Die Aufklärung
Nach Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) behindern Sekten die Wahrheit und den Fortschritt durch das, was sie verneinen. Daher sollte jeder Wahrheitsliebende von Sekten Abschied nehmen. Der frei philosophierende Denker wird zum Vorbild. Seit 1800 ist in der deutschen Philosophie der Begriff Sekte nicht mehr in Verwendung.
Im 19. Jahrhundert
Die „Religionsgesellschaft“ wird als Rechtsbezeichnung neben dem Begriff Kirche eingeführt. Den „sogenannten Sekten“ wird damit der Weg zu einer öffentlich-rechtlichen Gleichstellung eröffnet. Sekte meint immer weniger, eine religiöse Gemeinschaft ohne rechtliche Anerkennung zu sein.
Die Religionssoziologie
Im Unterschied zu einer traditionellen Herkunftsreligion, in die der Mensch hineingeboren wird, wird eine alternative Religionsform, der man sich nur durch Bekehrung anschließen kann, im Rahmen der Religionswissenschaft als Sekte bezeichnet. „Eine Sekte ist ein voluntaristischer Verband ausschließlich der Idee nach religiös-ethisch Qualifizierter, in den man freiwillig eintritt, wenn man freiwillig kraft religiöser Bewährung Aufnahme findet“ (Max Weber).
Eine „kulturelle Sekte“ bezeichnet keine Häresie, sondern eine Organisationsweise: eine Gemeinschaft, die mit der umgebenden Gesellschaft auf gespanntem Fuß steht, sich gegen sie abschirmt und hohe Ansprüche an die Loyalität und Solidarität ihrer Mitglieder stellt. Der feste Entschluss, auf kognitiver Abweichung zu bestehen, ist gleichbedeutend mit dem Entschluss zu sektiererischer gesellschaftlicher Organisationsweise (Peter L. Berger).
Im Rahmen der Religionsforschung sind Sekten Gemeinschaften, die sich auf eine Stifterin oder einen Stifter berufen, auf die Erneuerung einer altbekannten religiösen Tradition setzen und im Laufe der Zeit eine eigenständige religiöse Bewegung oder eine Reformreligion bilden.
Die Problemanzeige
Der Sekten-Begriff wird heute kaum mehr als Problemanzeige verwendet. Im theologischen und soziologischen Bereich werden damit grundsätzlich der religiöse Gehalt und der soziale Charakter einer Bewegung festgehalten. Die Bezeichnung Sekte hat also auch eine anerkennende Dimension. Die Problemanzeige, die mit dem Begriff verknüpft ist, wird heute im individuellen Bereich gesehen. Es gibt eine „Sektenhörigkeit“ (Michael Lukas Moeller), die nicht in der Vereinnahmung durch eine Gruppe besteht, sondern vor allem im engen Meister-Schüler-Verhältnis – einer Zweierbeziehung mit stärkstem Gefälle.
Im Bereich der Rechtssprechung erlangt das Wort Sekte die Bedeutung von Rufschädigung. Es verschärft sich aber auch die Aufmerksamkeit auf den Missbrauch der staatlich geschützten Religionsfreiheit.
Sekte wird auch als Signalwort verwendet. Die Massenmedien transportieren mit dem Sektenthema neben Informationen auch zusätzliche Ängste und Bedrohungspotentiale.
Als Erfahrungsurteil („ich war in einer Sekte“) benennt der Begriff Konflikte und Entscheidungssituationen, die mit negativ erfahrener Religiosität zusammen hängen und die Hilfesuchende zu Beratung und Bekenntnis bewegen. Im Gefolge aufsehenerregender Massen(selbst)morde beschäftigt auch die Frage, wie der und die einzelne StaatsbürgerIn vor einem Missbrauch der Religionsfreiheit durch unmenschliche Führungspersönlichkeiten geschützt werden können.
Sekten in den USA
Sekte meint im angloamerikanischen, protestantischen Raum kein strenges Gegenüber zu einer sich abgrenzenden Konfession, sondern im Sinne von „Denomination“, ein sichtbarer Zweig, der zum Baum der Kirche Christi dazu gehört. Eine Sekte ist eine (kleine) selbstständige christliche Sondergemeinschaft. Nichtchristliche Gemeinschaften werden „Kulte“ genannt.
Sekten im Islam
Auch der Islam kennt innere Fraktionsbildungen, die sich bereits nach dem Tode des Propheten entweder aus der Kalifatsfrage oder den verschiedenen Rechtsschulen gebildet haben. Oft bestimmt die Mehrheit oder die geschichtlichen Gegebenheiten, wer im konkreten Fall als Sekte, arabisch „fariq“, eingestuft wird.
Es gibt keine dogmatischen Merkmale zur Beurteilung einer Häresie, sieht man im bewussten Abfall von der islamischen Glaubensgemeinschaft ab. Die Bildung sogenannter neuer Religionen, wie z.B. der Baha’i, ist eine Folge dieser Ausgrenzung.
Literatur
G. Kehrer, Artikel "Sekte" in: Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe (HrwG), Band 5, Stuttgart 2001, S. 56-59;
W. Schröder et al., Artikel "Sekte" in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 9, Darmstadt 1995, Sp. 274-287;
H. J. Urban et al., Artikel "Sekte" in: Lexikon für Theologie und Kirche (LThK), Band 9, Freiburg 2000, Spp. 412-417;
F. Valentin / H. Gasper: Artikel "Sekte" in: Lexikon christlicher Kirchen und Sondergemeinschaften, Freiburg 2009, S. 207-212.
Wolfgang Mischitz, 2014