Guru
When a guru says he knows, he does not. When an Eastern guru or a man in the West says: "I have attained Enlightenment" - then you may be sure that he is not enlightened; enlightenment is not to be attained.1
Jiddu Krishnamurti
Ursprüngliche Bedeutung von Guru
Östliche Gurus im Westen
Westlicher Guruismus
Mini-Gurus
Guru im Volksmund
Unterscheiden
Identifikation im Dienste der Persönlichkeitsentwicklung
Christliche Orientierungspunkte
Ursprüngliche Bedeutung von Guru
Als Guru wird in östlichen Religionen – etwa in den Hindu-Traditionen, im Mahayana-Buddhismus und im Sikhismus – ein spiritueller Lehrer bezeichnet. Die Anhängerschaft unterwirft sich ihm, weil ihm ein besonderes Wissen zugeschrieben wird, das für den Weg zur Erleuchtung unentbehrlich erscheint. Darin besteht im Kern das Wesen des „Guruismus“. Der Guru in den östlichen Traditionen verfügt nicht nur über ein tiefes und umfassendes Wissen der heiligen Schriften, er ist auch ein starkes Vorbild. Er lebt, was er lehrt. Das Verhalten des religiösen Meisters wird als ethisch vollkommen gesehen. Bezüglich der Wortherkunft wird meist auf das maskuline Eigenschaftswort „guru“ verwiesen, das aus der Sanskritsprache stammt und so viel wie „schwer, gewichtig, ehrwürdig“ bedeutet. Die entsprechende weibliche Form lautet „gurvi“.
Östliche Gurus im Westen
In den 1970er und 1980er Jahre wurden in unserem Kulturkreis religiöse Bewegungen bekannt, die vor allem Jugendliche und Studierende anzogen. Bei aller Unterschiedlichkeit war vielen gemeinsam, dass sie in östlichen Traditionen ihre religiösen Wurzeln hatten und ein Guru das zentrale Geschehen in der Gruppe und in den Beziehungen untereinander dominierte. In der Abhängigkeitsbeziehung zum Guru lag auch einer der wesentlichen Punkte für das Konfliktpotential dieser missionarischen Bewegungen. Die “heiligen Meister“ beanspruchten für sich eine quasi gottähnliche Stellung und setzten ihr religiöses Erfolgs-
und Erlösungskonzept für die Menschen und die Welt oftmals absolut. Dadurch schufen sie eine heile Innenwelt, die sich als „gerettete“ Gemeinschaft vom „unheilvollen Draußen“ – vom „System“ – scharf abgrenzte. Die psychischen und sozialen Probleme, die dadurch für Mitglieder sowie für deren Angehörige und die Außenwelt entstanden, drangen auch in die breite Öffentlichkeit. „Stars“ in der westlichen Guruszene waren beispielsweise Maharishi Mahesh Yogi, Bhagwan Shree Rajneesh/Osho, San Myung Moon oder Prabhupada. Sie hatten eine beträchtliche Gefolgschaft. Etwas später kamen Guru-Gruppen rund um Sathya Sai Baba, Sri Chinmoy und Sant Thakar Sing hinzu. Manche von diesen im Westen verehrten Gurus genossen in ihrer asiatischen Heimat gar keine so große Bedeutung und Anerkennung. Als zwei bekannte Beispiele für Gurvis können Nirmala Devi (Sahaja-Yoga) und Mata Amritanandamayi (Amma-Bewegung) genannt werden.
Westlicher Guruismus
Diese bereits erwähnten Guru-Bewegungen spielen heute kaum noch eine Rolle. Manche Ideen finden sich jedoch in der Esoterik- und Psychoszene wieder. Aktiv ist noch – quantitativ aber auf einem eher bescheidenden Niveau – die Internationale Gesellschaft für Krishna-Bewusstsein (ISKCON/Hare Krishna). Westlicher Guruismus begegnet heute erneut in der sogenannten Satsang-Bewegung, in deren Mittelpunkt das Zusammensein des spirituellen Lehrers mit seinen Schülerinnen und Schülern als Schlüssel auf dem Weg ihrer „Erleuchtung“ steht. Es handelt sich um westliche „erwachte“ Schüler indischer Meister, die selber wieder Guru-Funktionen ausüben. Viele von ihnen berufen sich auf Ramana Maharshi (1879-1950), andere auch auf Osho Rajneeshs (1931-1990) oder Poonja (1910-1997). Daneben gibt es westliche Satsang-Lehrerinnen und Lehrer (Eckhart Tolle, Byron Katie u.a.), die ohne konkreten Meister „spontan“ erwacht sind oder als Schülerin oder Schüler durch einen westlichen Guru zu „Erwachten“ geworden sind. Da die Satsang-Bewegung mittlerweile unübersichtlich groß geworden ist, fällt ein differenziertes Meinungsbild entsprechend schwer. Jedoch wird mehrfach berichtet, dass Abhängigkeiten entstehen können – durch narzisstische Selbstüberschätzung und Selbstüberhöhung auf Seiten der Lehrerinnen und Lehrer und durch übersteigerte Erwartungsphantasien sowie starke Übertragungsneigung auf Seiten der Anhängerinnen und Anhänger. Insbesondere tragen auch gruppendynamische Prozesse zu einer Aufheizung dieser Phänomene bei, die zu Grenzüberschreitungen, emotionalen Verstrickungen bis hin zu psychischer Destabilisierung führen können. Innerhalb der Bewegung versucht man sich zwar von „Scharlatanen“ abzugrenzen, stößt dabei allerdings auf die Schwierigkeit, sich auf Merkmale festzulegen, die die Seriosität und Qualität einer Satsang-Anbieterin oder eines -Anbieters ausmachen.
Mini-Gurus
Ferner tummeln sich in der modernen religiösen Landschaft heute noch „Mini-Gurus“. Sie berufen sich nicht mehr primär auf asiatische, sondern auf die unterschiedlichsten religiösen und philosophischen Traditionen und Erkenntnisse und bewegen sich auch gerne im Kontext von alternativen Lebensmodellen. Urheber und Garant ihrer Lehre sind sie sich vor allem selber. Sie geben vor, alles zu durchschauen und beinahe alles zu wissen, komplexe
Zusammenhänge werden aber oftmals unzulässig negiert und vereinfacht. Typisch ist eine rigide Abgrenzung zu Andersdenkenden und zum Rest der Welt, die abgewertet oder gar dämonisiert wird. Angelpunkt dieser „Mini-Kulte“ ist wiederum die intensive Beziehung zwischen dem Guru und seinen Schülerinnen und Schülern. Diese Mini-Gurus können auch weiblich sein. Sie sind vielfach an keinem bestimmten Ort ansässig, sondern treten in Gasthäusern, Veranstaltungsräumen, Hotels etc. auf und bieten Vorträge, Seminare und weiterführende Kurse an. Die angebotenen spirituellen Dienstleistungen haben ihren satten Preis. Ihre Gefolgschaft ist meist klein, aber treu. Im religiösen Sprachgebrauch haftet der Bezeichnung Mini-Kult ad hoc etwas Negatives an, weil viele dieser Mini-Gurus bei ihren Anhängerinnen und Anhängern Abhängigkeiten sowie persönliche, familiäre und soziale Konflikte verursachen.
Guru im Volksmund
Schließlich gibt es noch einen außerreligiösen, umgangssprachlichen Gebrauch von „Guru“. Wenn damit eine Person gemeint wird, die aufgrund ihres Wissens, ihrer Erfahrung und ihrer häufig anziehenden und charismatischen Persönlichkeit brilliert, so spricht man von Fitness-Gurus, Ernährungs-Gurus, Erziehungs-Gurus, Musik-Gurus etc.
Unterscheiden
Ist von einem Guru die Rede, gilt es immer kritisch hinzuschauen und zu unterscheiden. An der Qualität des Verhältnisses der religiösen Führungsperson zu deren Anhängerinnen und Anhängern lässt sich meist das Entscheidende ablesen. In den Traditionen der Hindu-Religionen und des Buddhismus ist diese Beziehung ausgerichtet auf den Wunsch des Gurus, der spirituellen Entwicklung seiner Schülerinnen und Schüler hin zur Erleuchtung selbstlos dienlich zu sein. Dem gegenüber stehen am anderen Ende manche religiöse Kulte, in deren Mitte selbsternannte „Gurus“ thronen, die bisweilen ihre Macht auf unterschiedliche Weise missbrauchen. Das kann sein, indem sie Menschen schrittweise von ihrem bisherigen Leben entfremden und in alle ihre Lebensbereiche hinein Einfluss nehmen sowie deren Entscheidungsfreiheit und Eigenverantwortung subtil manipulieren. Mitglieder werden für eigene Interessen funktionalisiert, psychisch, physisch und sehr oft finanziell ausgebeutet. Angeleierte, emotional intensive Gruppenprozesse unterstützen die oft unantastbare Position einer spirituellen Meisterin oder eines Meister. Letztlich handelt es sich aus religionswissenschaftlicher gleich wie aus psychologischer Sicht um einen fatalen Missbrauch der Vertrauensbeziehung, die zwischen religiösen Lehrerinnen und Lehrern und ihren Schülerinnen und Schülern besteht.
Identifikation im Dienste der Persönlichkeitsentwicklung
Manche glauben, was ihr Guru glaubt und identifizieren sich ganz und gar mit seiner Weltanschauung, mit seiner Art zu denken und zu leben. Die Identifikation mit einem Vorbild oder einem Idol, mit dessen Denk- und Lebensweise ist ein natürlicher und zunächst positiver innerpsychischer Mechanismus. Er verleiht in Beziehungen Gewissheit, Sicherheit und Orientierung. Über Identifikation werden Lernprozesse gefördert. Auch Idealisierung hat in einem gewissen Maße in zwischenmenschlichen Beziehungen ihren Platz. Hand in Hand muss aber auch immer die Fähigkeit zur Unterscheidung, zur Abgrenzung und zur Autonomie wachsen. Über Identifikation können neue Aspekte im Selbstbild entdeckt und aufgebaut werden, aber auf Identifizierung muss Differenzierung und Unabhängigkeit folgen, damit Identität, Authentizität und Reife entstehen können. Das Ziel jeder religiösen Sozialisierung und Unterweisung muss deshalb immer der freie, für sich selber sorgende und für andere empathisch fühlende Mensch sein, der in seiner Persönlichkeitsentwicklung unterstützt wird und seine genuinen Potenziale entdecken und entwickeln lernt. Das schließt bei aller Bewunderung und Verbundenheit mit einem „Guru“ jede Form von einseitiger Abhängigkeit, Indoktrinierung und Unselbständigkeit aus.
Christliche Orientierungspunkte
Aus katholischer Sicht lässt sich folgendes festhalten: Zunächst stellen Glauben und kritisches Denken keinen Widerspruch dar. Bei jeder Form von gesunder Religiosität sind Glauben und Vernunft aufeinander bezogen. Sie sind Zwillinge. Fragen, Zweifeln, Scheitern sind ein wesentlicher Teil religiöser Wege. Jeder Guru – egal in welchem Kontext und in welcher religiösen Tradition – muss sich und seine Person und Lehre deswegen auch immer in Frage stellen lassen. So wird Buddha – um ein östliches Beispiel hier ergänzend zu nennen – folgendes Zitat zugeschrieben: „Glaube nichts, selbst wenn ich es gesagt habe, es sein denn, es stimmt mit deiner Vernunft und dem gesunden Menschenverstand überein.“ Des Weiteren ist es ein christliches Erkennungszeichen, dass jede religiöse Meisterin und jeder spirituelle Lehrer immer über sich selber hinaus verweist. Auf das namenlose, je größere Geheimnis, das hinter und in aller religiösen Lehre und Weisheit steht und alles übersteigt. Schließlich erweist sich die Echtheit spiritueller Tiefe – gleich welchen Gurus – an der Offenheit und Zugewandtheit zur Welt und zu allen Menschen, unvoreingenommen und ohne Vorbedingungen und Kalküle.
Christlicher Goldstandard ist: Liebe und Spiritualität, wo auch immer sie versprochen werden, müssen Gestalt annehmen und spür- und sichtbar werden durch Menschen, die Brücken bauen, Nähe schenken und an der Verständigung zwischen Menschen arbeiten. Liebe und Weisheit, wer immer sie für sich in Anspruch nimmt, müssen konkret und erfahrbar werden in der Verantwortung füreinander, in der Verbindlichkeit und in der Nachhaltigkeit des gewählten Lebensstils sowie im sich Mühen für eine solidarische und gerechte Welt – im Kleinen wie im Großen. Das ist die entscheidende Maxime in der Einschätzung jeder religiösen Lebenshilfe, jeder Spiritualität und jedes religiösen Gurus.
Literatur
H. Baer / H. Gasper / J. Sinabell / J. Müller, Lexikon nichtchristlicher Religionsgemeinschaften, Freiburg/Breisgau 2008;
A. Fincke, Art. Die sogenannten Jugendreligionen, Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW) 2005, URL: https://ezw-berlin.de/html/3_194.php (Abrufdatum 13.07.21);
C. Knepper, Art. Satsang, Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen 2010, URL: https://www.ezw-berlin.de/html/3_178.php (Abrufdatum: 13.07.21).
Eva-Maria Melk-Schmolly, 2021
1 Wenn ein Guru sagt, dass er wissend ist, stimmt das nicht. Wenn ein Guru aus dem Osten oder ein Mann im Westen sagt: „Ich habe Erleuchtung erlangt“, dann können Sie sicher sein, dass er nicht erleuchtet ist. Erleuchtung ist nicht etwas, das man erreichen kann.
Jiddu Krishnamurti