Fundamentalismus
Herkunft des Begriffs
Merkmale
Formen
Einschätzung
Als globale Phänomene sind der Fundamentalismus und fundamentalistische Strömungen sowohl in der öffentlichen Wahrnehmung als auch in medialen und politischen Diskursen ein aktuelles sowie kontroverses Thema.
Eine der grundlegenden Schwierigkeiten bei der Verwendung des Begriffes Fundamentalismus liegt in seiner grundsätzlichen Unschärfe und der Überfrachtung mit Bedeutungen und Inhalten. Auch innerhalb der Fachliteratur lässt sich keine einheitliche Definition ermitteln. Im allgemeinen Sprachverständnis hat sich der Begriff als eine diffuse Charakterisierung von Positionen eingebürgert, die mit Radikalismus, Intoleranz oder ideologischer Enge assoziiert werden. Sein Geltungsbereich wird dabei meist auf religiöse Gruppen oder überhaupt nur auf den Islam reduziert. Es gibt jedoch eine Vielzahl anderer Formen dieses Phänomens, die sowohl innerhalb religiöser Gemeinschaften als auch in säkularen Weltanschauungskonzepten und politischen Gruppierungen vorzufinden sind. Gemeinsam ist ihnen, dass das ganze Leben, auch Politik, Gesetz und Gesellschaft bestimmten, nicht hinterfragbaren weltanschaulichen bzw. ideologischen Lehren untergeordnet werden.
Herkunft des Begriffs
Der Begriff „Fundamentalismus“ entstammt ursprünglich der Selbstbezeichnung einer Bewegung protestantisch-konservativer Gruppen, die in den 70er Jahren des 19. Jh. in den USA begann und 1919 zum Zusammenschluss in der "World's Christian Fundamentals Association" führte. In einer Schriftenreihe mit dem Titel "The Fundamentals. A Testimony to the Truth", die von 1909-1915 im Umkreis dieser Gruppen in den USA erschien, wird der Fundamentalismus erstmals als gemeinsamer Nenner unterschiedlicher Bewegungen fassbar. Das gemeinsame Ziel dieser Bestrebungen war zunächst klar religiös und christlich: Mit der Berufung auf Verbalinspiration und absolute Irrtumslosigkeit der Bibel wandte man sich gegen theologischen und dogmatischen Liberalismus und „neuzeitlichen“ Modernismus.
Merkmale
Die Reformanliegen fundamentalistischer Gemeinschaften umfassen im Wesentlichen zwei Ebenen: Zum einen die inhaltliche und gedankliche Vereinheitlichung sowie die Begründung einer geschlossenen, gegenüber den selbsternannten Autoritäten loyalen Gesinnungsgemeinschaft, zum anderen die konkreten Lebensgestaltung, eine gewisse Vereinheitlichung der Lebensführung sowie eine Macht- und Kontrollfunktion über Anhänger*innen. Diese beiden Ebenen werden sowohl gegen "Andersgläubige", d.h. Vertreter*innen anderer Ideologien, wie auch gegen interne Kritiker*innenverteidigt.
Nach außen ist der Fundamentalismus somit durch ein geschlossenes Weltbild, die Ablehnung der „modernen“ Welt, die Wissenschaftsskepsis und damit einhergehend auch die Ablehnung von rationalen Diskursen gekennzeichnet. Fundamentalisten berufen sich auf als allgemein gültig bezeichnete Lehren, wenn sie z.B. bestimmte Bilder der Gesellschaft, Familie oder Geschlechter vertreten. Im Blick auf den inneren Bereich dieser Gruppierungen sind die grundlegenden Merkmale eine autoritäre Struktur, der Aufbau einer neuen Identität und einer neuen existenziellen Aufgabe sowie eine oftmals rückhaltlose Identifizierung mit den jeweiligen Gruppenidealen.
Formen
Es gibt vielfältige Erscheinungsformen des Fundamentalismus: ideologisch-extremistische Gruppen, den Fundamentalismus innerhalb religiöser Traditionen, den gesellschaftlich weniger bedeutenden Fundamentalismus der Weltabkehr und den teilweise militanten Fundamentalismus der Weltbeherrschung – um nur einige zu nennen. Auch die großen, militanten Ideologien des 20. Jahrhunderts können in diesem Verständnis als fundamentalistisch bezeichnet werden: Der Kommunismus und der Nationalsozialismus erstreben Ideale – die klassenlose Gesellschaft bzw. die arische Volksgemeinschaft – von denen sich die gegenwärtigen Zustände durch die Schuld von Feindbildern – Kapitalismus bzw. „internationales Judentum“ entfernt hätten. Fundamentalistische Bewegungen innerhalb religiöser Traditionen beantworten die Frage nach ihrer genuin religiösen Identität hauptsächlich durch Abgrenzung. Zudem sind sie antipluralistisch, antimodernistisch und antifeministisch, bei einer gleichzeitigen Aufrechterhaltung starker "patriarchalischer" Autorität.
Einschätzung
Der kleinste gemeinsame Nenner aller – zu Recht oder zu Unrecht – als fundamentalistisch bezeichneten Strömungen ist der Vorwurf des wissenschaftlichen, geistigen, religiösen und politischen Widerstandes gegen die Moderne (Antimodernismus). Weiterhin kann Fundamentalismus auch sehr allgemein beschrieben werden als jede Art von Reflexionsverbot über eine objektiv nicht immer nachvollziehbare, nicht hinterfragbare, zeitlos gültige und ideologische Wahrheit.
Abschließend ist festzuhalten, dass religiöse und nicht-religiöse Fundamentalismen eine Minderheitenposition darstellen, die jedoch auf Grund der medialen Präsenz in der öffentlichen Wahrnehmung sehr sichtbar sind, oft im Zusammenhang mit Gewalt und Leid, die sie verursachen. Die Auseinandersetzung mit fundamentalistischen Positionen und Bewegungen bleibt somit eine akute Herausforderung für eine religiös und weltanschaulich plurale Gesellschaft.
Literatur
J. Bair / W. Rees (Hg.), Fundamentalismus in Österreich. Innsbruck 2019;
M. Riesebrodt, Fundamentalismus als patriarchalische Protestbewegung, Tübingen 1990;
H.W. Schäfer, Kampf der Fundamentalismen. Radikales Christentum, radikaler Islam und Europas Moderne, Frankfurt am Main / Leipzig 2008:
H. Schleichert, Wie man mit Fundamentalisten diskutiert, ohne den Verstand zu verlieren. Anleitung zum subversiven Denken, München 72012;
C. Six / M. Riesebrodt / S. Haas (Hg.), Religiöser Fundamentalismus. Vom Kolonialismus zur Globalisierung, Innsbruck / Wien / München / Bozen 2005.
Johannes Sinabell / Robert Wurzrainer, 2021