Böse, das
Theologische Skizze
Das Böse als Ungehorsam
Die Materie als Quelle des Bösen
Mythischer Teufels- und Dämonenglaube
Das Übel und das Böse als dunkle Seite des Absoluten
Theologische Skizze
Das Böse ist zu unterscheiden vom Übel. Dieses besteht das darin, dass Wesen beschädigt oder zerstört werden, und wird von den empfindungsfähigen unter ihnen als physischer bzw. psychischer Schmerz erlebt. Das Böse, das es erst beim Menschen gibt, ist dagegen die ethische Qualität einer freien Entscheidung, die wider bessere Einsicht Mitmenschen schädigt, sie verletzt oder gar vernichtet. Die Möglichkeit des Bösen ist untrennbar verbunden mit der Freiheit – als freie Verneinung dessen, wozu sie sich gerufen und verpflichtet weiß: zum Guten, zu aktiver Solidarität.
Diese Solidarität soll Gesinnung wie Taten prägen (Nächstenliebe). Ihr Maß ist die Güte des himmlischen Vaters, mit der er in der Hingabe seines Sohnes den Menschen, die in das Böse verstrickt sind, begegnet und sie zur Umkehr ruft. Das Böse im vollen Sinn – die Sünde – bedeutet Sich-Verschließen gegen diesen göttlichen Ruf und Verweigerung der Solidarität.
Das Wort Verstrickung weist darauf hin, dass dem Bösen auch eine überindividuelle Dimension zukommt. Das Neue Testament weiß um das Böse als die Freiheit von Vornherein einschränkende, knechtende Macht; aus ihr kann die Menschen nur der Geist Gottes befreien und in ihren Herzen die Fähigkeit zum Guten wecken.
Die Verfallenheit an das Böse hat verschiedene Gründe: Menschliche Gesellschaften sind seit jeher strukturell weniger von Liebe als von Kampf und Rivalität bestimmt. Dadurch entstehen im Menschen von frühester Kindheit an – großteils unbewusst – Misstrauen und überschießende Aggression. Außerdem trägt er in den Genen evolutiv bedingt den Keim für schwer zu integrierende und sogar destruktive Impulse. Dazu kommen äußere Nöte, die das Leben vieler nicht nur erschweren sondern misslingen lassen. Solange Menschen nicht konkret der Liebe Gottes begegnen, verdunkeln diese äußeren und inneren Bedrängnisse das Bild des Absoluten, wie die Religionsgeschichte deutlich zeigt. Wir stoßen hier auf das, was die christliche Tradition Erbschuld nennt und als Mangel an Gnade beschreibt. Es handelt sich um die existentielle Gottferne des Menschen. Sie beeinträchtigt auch seine Möglichkeiten, ethisch gut zu handeln. Zwar ist das zweifellos auch Atheisten und Agnostikern möglich: Wirklich sinnvoll sind aber radikale Solidarität aber auch die Integration dysfunktionaler innerer Antriebe nur im Gegenüber des Menschen zu Gott: dann, wenn er vertrauen darf, dass er absolut angenommen ist und trotz seiner bruchstückhaften und oft scheiternden ethischen Bemühungen seine Vollendung finden wird.
Jesus hat in seiner Verkündigung nicht umsonst das Gottesreich in Wundern konkret werden lassen: Die Befreiung von niederdrückenden Leidenszuständen sind nicht nur ein Zeichen für Jesu Vollmacht sondern signalisiert auch, dass Gott diese Übel letztlich nicht will, und das sollte das Gottvertrauen erleichtern bzw. erst ermöglichen.
Das Neue Testament sieht als letzten Grund des Machtcharakters des Bösen die satanische Welt. Sie wirke sich konkret darin aus, dass wir ständig von bösen Geistern gequält und versucht würden. An dieser biblischen Deutung von bestimmten Unheilserfahrungen kann man heute nicht mehr eins zu eins festhalten, aber vielleicht könnte man interpretieren: Die Übel, die Gottesverhältnis und ethische Möglichkeiten des Menschen belasten, sind nicht von Gott direkt gewollt; in dem Übermaß und der Intensität, wie sie von Tieren und Menschen erlebt werden, gründen sie auch nicht einfach nur als unvermeidliche Begleiterscheinungen in der gottgewollten Schöpfungswirklichkeit; sie können auch nicht zur Gänze vom durch das vom Menschen zu verantwortende Böse erklärt werden; vielmehr gehen sie auch auf in die Gestaltung und Evolution des Kosmos und der menschlichen Lebenswelt eingebundene willentliche Mächte zurück, die – analog zu den Menschen – ihre Freiheit missbraucht haben (gefallene Engel). In diesen läge dann zwar nicht die unmittelbare, wohl aber die hintergründige Begründung für die der menschlichen Verantwortung entzogenen und vorgegebenen Übel.
Das Böse als Ungehorsam
Nach dem oben Gesagten besteht das Böse in der Weigerung, anderen Menschen solidarisch zu begegnen und auf Gottes schenkende und herausfordernde Liebe zu antworten. Hier ist sicher auch ein Moment des Ungehorsams gegen die göttliche Autorität eingeschlossen. Nun gibt es christliche Gruppen, die dieses Moment isolieren. Sie sehen Gott in einer gewissen Engführung als unvermittelte Legitimationsinstanz ihrer unhinterfragbaren Lehre oder Struktur. Diese Elemente werden gleichsam tabuiert; dadurch geraten sie überwertig in den Vordergrund und werden nicht mehr als (grundsätzlich immer auch defiziente) Vermittlung zur persönlichen Begegnung mit Gott verstanden. Der sie garantierende Gott wird zum absolutistischen Gesetzgeber, die Autorität seiner Schöpfermacht und Liebe wird zum Autoritarismus verengt. Das Böse gilt in diesem Kontext nicht in erster Linie als Beziehungsverletzung oder ‑verweigerung sondern vorwiegend und einseitig als Ungehorsam gegen Lehren oder Instanzen. Derartige Züge finden sich etwa in radikal fundamentalistischen Gruppen. Diese unterscheiden in den biblischen Schriften nicht zwischen zeitbedingten und deswegen veränderlichen Elementen und der darin vermittelten Glaubensbotschaft und sehen auch nicht, dass sich auch die Glaubensbotschaft selbst verändert und entwickelt. Für sie gehen alle biblischen Texte platt und direkt auf Gott zurück und sind in fraglosem Gehorsam anzunehmen. Dann wird Unglaube wirklich vor allem Ungehorsam, und unethisches Handeln ist in dieser Sicht weniger gegen Humanität und die durch ihre Identifikation mit jedem Menschen verwundbar gewordene Liebe Gottes gerichtet, sondern gilt vor allem als Zuwiderhandeln gegen Gottes unveränderlich festgeschriebenes Gebot. Besonders extrem sind in dieser Hinsicht Jehovas Zeugen, die völlige Unterordnung unter die durch ihr Lehrsystem vorgelegte Bibelauslegung verlangen: Wer von ihr abweiche, mache sich direkter Auflehnung gegen Gott selbst schuldig.
Autoritarismus und daraus folgende undifferenzierte Gehorsamsforderungen gibt es auch bei manchen Neureligionen und zwar vor allem zu Lebzeiten ihres Stifters oder Gurus. Als vom Göttlichen erleuchtete oder mit ihm identische Instanz hat er unhinterfragbare Macht über seine Anhänger. Oft geht diese nach dem seinem Tod auf seine Nachfolger oder/und seine Schriften über, so etwa in der Mun-Bewegung. Bei Scientology muss man in diesem Zusammenhang wohl von Totalitarismus sprechen. Wer sich dort in das schrankenlose Freiheit und quasi-allmächtige Möglichkeiten verheißende System nicht gehorsam einfügt, gilt als verbrecherisches Element.
Die Engführung des Verständnisses des Bösen auf Ungehorsam ist aber auch eine Gefahr für jede Religionsgemeinschaft. So werden etwa in der katholischen Kirche bisweilen analog dem oben genannten Fundamentalismus Dogmen und sonstige kirchenamtliche Äußerungen zu unvermittelt mit der göttlichen Wahrheit identifiziert, zu der sie doch nur hinführen können. Auch hier wird dann Unglaube vor allem Ungehorsam gegen bestimmte Lehren.
Die Materie als Quelle des Bösen
In Anschluss an gnostische oder fernöstliche spiritualistische Traditionen gilt für manche Neureligionen und esoterische Weltanschauungen die Materie als der wahren geistigen Wirklichkeit entgegengesetzt, und das Böse kommt aus der Beschäftigung mit dem Materiellen, wobei manchen Gruppen die Sexualität besonders verdächtig ist. Für das Universelle Leben stammt die Materie aus einem Abfall im Bereich des Göttlichen und hemmt den Menschen am Aufstieg zu Gott; auf dem Weg zu diesem Ziel sind Vegetarismus und Verzicht auf Sexualität wichtige Mittel. Nach anthroposophischer Lehre hat die Materie zwar auch eine positive Funktion im Zu-Sich-Kommen des menschlichen Geistes, ist aber auch das Haupthindernis für die Vergeistigung des Menschen. Die Christliche Wissenschaft hält die Materie sogar für nicht-existent und die Annahme, sie sei real, für den Grund alles Bösen.
Das grundsätzlich überhaupt nicht spiritualistisch ausgerichtete Christentum konnte gleichwohl nicht alle materiefeindlichen gnostischen und manichäischen Umwelteinflüsse abwehren, was in seiner Geschichte zu mancher Schlagseite insbesondere in der Sexualethik führte und in den großen Kirchen bis heute nachwirkt.
Mythischer Teufels- und Dämonenglaube
Oben wurde versucht, einen Ansatzpunkt für eine differenzierte Interpretation der biblischen Dämonologie zu anzudeuten. Dagegen ist in nichtchristlichen Neureligionen und christlichen Sondergruppen, teilweise aber auch in den Kirchen, ein massiver Teufelsglaube zu finden, und das Böse, das Menschen tun, wird durch direkten und starken Einfluss des Teufels und der Dämonen auf ihre Freiheit erklärt. Jakob Lorber und das Universelle Leben vertreten einen förmlichen Dualismus: Sie verstehen Luzifer bzw. Satan als Gottwesen – als weibliches Gegenüber Gottes – und lassen ihrem Versagen in gnostischer Manier die materielle Welt entspringen. Aber auch dort, wo Satan als Geschöpf gilt wie in der Mun-Bewegung und natürlich in den christlichen Kirchen, spielt er oft die Rolle eines widergöttlichen Pols und wird als Quelle aller vom Menschen als bedrohlich erlebten inneren Regungen wie Glaubenszweifel, Ungehorsam, verbotene Triebwünsche, Hass gesehen. Die Verteufelung dieser Impulse verhindert, dass der Mensch für sie Verantwortung übernimmt und die darin auch enthaltenen positiven Elemente erkennt: Streben nach rationaler Glaubensverantwortung, Autonomie, gesunder Entfaltung. Sie ist aber auch einer der Faktoren, auf die der Satanismus reagiert: Er verabsolutiert im Gegenzug das Streben nach Autonomie und Triebbefriedigung und lässt ihm in destruktiver, auch von ihm selbst bewusst als böse bezeichneter Weise die Zügel schießen: dies in Anschluss an Satan, oft monistisch verstanden als absolute orgiastische kosmische Urenergie, die alle humanen und ethischen Prinzipien sprengt.
Das Übel und das Böse als dunkle Seite des Absoluten
Während für das Christentum das Böse dem Willen Gottes absolut widerstreitet und auch das Übel von ihm zumindest nicht direkt gewollt ist, gründen sie für manche esoterisch-monistische Traditionen im Absoluten als dessen dunkle Seite. In Anschluss daran wurden sie von C. G. Jung als Schatten Gottes bezeichnet. In der modernen Esoterik wird diese These ebenfalls vertreten und damit manchmal die Passivität gesellschaftlichen Missständen und Gräueln gegenüber gerechtfertigt: Sie seien notwendige Durchgangsstufen in der Evolution der Menschheit.
Literatur
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