Im Internet findet man in mannigfachen Varianten die Überzeugung ausgesprochen, das Auftreten von Covid-19 sei vorhergesagt bzw. prophezeit – ich gebrauche den ersten der beiden Begriffe mehr in säkularem, den zweiten mehr in esoterischem oder religiösem Sinn. Im Folgenden soll geprüft werden, wie einzelne Vorhersagen / Prophezeiungen von Covid-19 zu bewerten sind. Wie weit sind sie wirklich inhaltlich zutreffend – manchmal vielleicht sogar so auffallend, dass sie paranormale Phänomene („Präkognitionen“) sein könnten? Wenn sie aber die Realität von Covid-19 deutlich verfehlen, warum gehen sie doch als zutreffend durch? Warum wurden einige von ihnen sogar erfunden?
Die Simpsons
Zwei Folgen der Serie „Die Simpsons“, eine aus 1993 und eine aus 2010, seien verschleierte Andeutungen von Covid-19 – diese Überzeugung findet man oft im Netz[1]. Die Simpsons seien bezüglich der Zukunft ja schon öfters richtig gelegen, so seien in der Serie die Wahl Trumps oder die Tigerattacke auf zwei Entertainer im Vorhinein ziemlich übereinstimmend mit der späteren Realität dargestellt worden.
In der Folge aus 2010 einigen sich Medienimperien auf ein tödliches Virus, das die Menschheit infizieren soll. In der aus 1993 gelangen aus einer japanischen Firma geplant Viren nach Europa, an denen sich Familienoberhaupt Homer Simpson infiziert. Dass diese Szenen Covid-19 vorwegnehmen, scheint allerdings mangels wirklicher Parallelen zwischen ihnen und der heutigen Lage wenig plausibel. Anders ist es freilich, wenn man sie und die heutige Realität schon von Vornherein unter dem Gesichtspunkt einer Verschwörungstheorie sieht: Covid-19 sei demnach von Mächten im Hintergrund inszeniert, die die ganze Menschheit für ihre dunklen Ziele gefügig machen wollten. Die Macher der Simpsons steckten mit ihnen unter einer Decke und wüssten so um ihre Absichten, was in den Szenen verschleiert angedeutet werde. Als Drahtzieher werden manchmal die phantasieumrankten, meist als jüdisch-freimaurerische Connection gesehenen Illuminaten genannt. Auch von Menschen, die Kausalitäten beeinflussen oder manipulieren könnten, also übersinnliche Kräfte hätten, ist die Rede.
Derartige finstere Hintergrundmächte hätten also die Corona-Krise verursacht, das liegt für den Kundigen aufgrund aller möglichen Indizien gleichsam auf der Hand und wird damit zur Hauptsache, zur eigentlichen Realität. So fällt nicht ins Gewicht, dass es zwischen den beiden Simpson-Folgen und der heutigen Corona-Realität kaum Berührungspunkte gibt. Der Zusammenhang zwischen angeblicher Vorausschau und heutiger Wirklichkeit bekommt innerhalb der Klammer einer Verschwörungstheorie eine Plausibilität, die für psychisch entsprechend verfasste Menschen mehr Überzeugungskraft hat als die damit schlecht vereinbare Realität.
Dass andere Folgen der Serie spätere Ereignisse wirklich relativ treffsicher vorweggenommen haben, ist auf Zufälle zurückzuführen, wie auch einer der Autoren nüchtern feststellt.
Nostradamus
Wie in vielen Krisen ist man auch in der gegenwärtigen bei Nostradamus, dem bekannten Apotheker und angeblichen Hellseher aus dem 16. Jahrhundert und seinen rätselhaften Vierzeilern fündig geworden. Ein sehr oft zitierter wirkt recht eindrucksvoll und könnte sogar als „echte“ Prophezeiung gelten, er ist allerdings bei Nostradamus nicht nachweisbar und kann aus literarischen Gründen gar nicht von ihm stammen[2].
Auf zwei dagegen wirklich existierende Texte beruft sich eine recht abenteuerliche Theorie[3], nach der 2020 bis 2025 in den Industrieländern der westlichen Welt durch Einschleusung des Covid-19-Virus eine große Reduzierung der Bevölkerung geplant sei. Der eine Vierzeiler wird gewaltsam auf Covid-19 hingebogen, der andere wird als „Weltuntergangs-Prophezeiung“ einfach hinzugefügt. Das Ganze dient hier dazu, die genannte Horrorfantasie durch das Gewicht der Vorhersagen des berühmten Sehers zu untermauern. Dass nichts wirklich zusammenpasst, dass also die gesponnene Theorie mit dem Inhalt der Verse nichts zu tun hat, wird großzügig übersehen.
Obwohl für Nostradamus das Weltende erst 3797 kommt, werden wirklich oder angeblich von ihm gemachte Aussagen auf unsere Zeit bezogen und in Verbindung mit apokalyptischen Weltuntergangsszenarien gesehen[4]. „Der Antichrist regiert im Weißen Haus, Heuschrecken, Flut, Fliegen, Coronavirus. Ich glaube das ist es, was Nostradamus uns vor 546 Jahren gelehrt hat“, heißt es auf Twitter, und jemand anderer sagt: „Die Plage des 21. Jahrhunderts ist da. Eine Nostradamus Prophezeiung. Wir werden sehr bald sterben“. Es ist wohl auch ein teils ins Unbewusste abgesunkenes säkularisiertes Erbe christlich-fundamentalistischer Traditionen, dass das Weltende aus Prophezeiungen sehr konkret voraussagbar sei. Von daher halten manche Menschen solche apokalyptische Botschaften schnell für glaubwürdig. An die Stelle von Verschwörungstheorien treten hier Endzeitfantasien, die dadurch bekräftigt werden, dass Dinge eintreffen, die Nostradamus für die Endzeit prophezeit hat.
Baba Vanga
Baba Vanga (1911-1996), als Jugendliche erblindet, gilt als die berühmteste Seherin Bulgariens. Zunächst angefeindet durfte sie nach wissenschaftlicher Prüfung ihrer Fähigkeiten ab den 1960er Jahren – in dieser Zeit stand im damaligen Ostblock die Parapsychologie hoch im Kurs – unter behördlicher Aufsicht als Beraterin arbeiten und soll bei ihren Voraussagen viele Treffer erzielt haben[5]. Die bulgarische Turntrainerin Neshka Robeva berichtet, dass Vanga kurz vor ihrem Tod zu ihr gesagt habe, das Corona-Virus sei zu uns gekommen, und Corona würde uns „niedertrampeln“[6]. Robeva habe das damals politisch verstanden; erst jetzt wisse sie, was es zu bedeuten gehabt habe. Zusammen mit dieser nicht nachprüfbaren Geschichte werden viele – auch nicht zu verifizierende – Prophezeiungen Vangas über die gegenwärtige Zeit kolportiert und diskutiert und auch wiederum zum Beweisen von Verschwörungstheorien missbraucht. So habe auch sie über die Entvölkerung Europas zwischen 2020 und 2025 gesprochen – dieses schon lang im Netz herumgeisternde Gerücht geht sicher nicht auf sie zurück, sondern wurde ihr ebenso in die Schuhe geschoben wie Nostradamus. Wie um diesen ist auch um sie ein Hype entstanden, der aufgrund Vangas – nicht unumstrittener – christlicher Ausrichtung teilweise mehr religiös als esoterisch geprägt ist.
Über die Möglichkeit echter Hellsichtigkeit
Aus parapsychologischer Sicht ist nicht zu bezweifeln, dass manche Menschen tatsächlich zukünftige Ereignisse vorhersehen, und zwar mit so vielen, wenn auch oft vagen Details, dass man das nur schwer als zufällige Treffer abtun kann. Baba Vanga scheint solche Fähigkeiten gehabt zu haben. Könnte sie dann nicht auch die Corona-Krise vorhergesehen haben? Dass sie im Jahr 1996 – vor der SARS-Epidemie 2002/03 – etwas über das Corona-Virus gewusst hat, ist ja extrem unwahrscheinlich. Die Äußerung Vangas wird freilich ein Vierteljahrhundert später nur von einer einzigen Zeugin erzählt, und das reicht nicht, um sie als glaubwürdig einzustufen. Wenn die Zeugin aber wirklich die Wahrheit erzählte, dann läge hier wohl eine echte Vorausschau vor.
Bei von seherisch Begabten ausgegebenen Botschaften kann man nie im Vorhinein sagen, ob sie sich erfüllen werden. Auch solche Menschen treffen sehr oft daneben, weil sie ihre immer lebendigen Fantasien nicht von eventuellen meist seltenen Zukunftsahnungen unterscheiden können. Zudem kann der Sinn einer Prophezeiung oft erst im Nachhinein verstanden werden – auch von der hellsichtigen Person selbst, der er zunächst dunkel und rätselhaft bleiben kann. Manchmal bezieht sich eine Voraussage sehr detailliert auf Nebensächliches, und das, was sich nachher als Hauptsache herausstellt, bleibt links liegen. Bei der Bewertung einer Vorhersage ist zu bedenken, dass sie dem vorhergesagten Ereignis keine besondere Bedeutung verleiht, und Menschen mit seherischen Fähigkeiten werden dadurch nicht zu Autoritäten in allen möglichen Fragen.
Übrigens kann man wohl auch Nostradamus eine derartige Begabung nicht absprechen, und so mag es sein, dass seriöse Linguisten und Historiker – also nicht voreingenommene Fans – aus seinen Vierzeilern noch den einen oder anderen als (wahrscheinlichen) Treffer identifizieren werden. Das rechtfertigt aber in keiner Weise die Bedeutung, mit denen man die Vorhersagen und die vorhergesagten Ereignisse ausstattet.
Sylvia Browne
Auch das bekannte, umstrittene und zweifellos geschäftstüchtige „Medium“ Sylvia Browne (1936-2013) soll eine Covid-19-Prophezeiung gemacht haben, der sogar die amerikanische Faktencheck-Website „Snopes“ zubilligt, sie sei aus Wahrem und Falschem vermischt[7]. Sie stammt aus einem esoterisch-apokalyptisch ausgerichteten Buch aus dem Jahr 2008 und sagt für 2020 den Ausbruch einer ernsten, einer Lungenentzündung ähnlichen Krankheit voraus, die Lungen und Bronchien angreifen und einer Behandlung widerstehen werde[8]. Bei Kommentatoren im Netz ruft diese doch recht treffende Aussage zum Teil Angst hervor, jemand stellt freilich in Hinblick auf die tatsächlich vielen Fehl-„Prophezeiungen“ Brownes trocken fest, auch eine kaputte Uhr zeige zweimal am Tag die richtige Zeit. Das stimmt mit der Bewertung von Snopes überein, wo man meint, es habe sich um einen Zufallstreffer gehandelt. Im Jahr 2008, wo man schon die von einem anderen Corona-Virus verursachte SARS-Seuche hinter sich gehabt habe, sei es nichts Besonderes gewesen, ein solches Glück beim Raten zu haben.
Ich bin mir da nicht ganz so sicher, da Brownes Beschreibung erstaunlich gut für Covid-19 zutrifft. Aber was bringt das? Als der Text 2008 niedergeschrieben wurde, konnte niemand wissen, ob und wenn ja, wie er in Erfüllung gehen werde. Ebenso wenig kann man heute sagen, ob auch das kommen wird, was Browne ebenfalls vorhergesagt hat: Die Krankheit werde schnell vorbei sein, in zehn Jahren nochmals auftauchen und dann endgültig verschwinden. Auch wenn die Krankheit so gekommen ist wie vorhergesagt, bedeutet das in keiner Weise, dass sie sich auch so verhalten und so verschwinden wird wie vorhergesagt. Sollte aber auch das in Erfüllung gehen, wäre das ein starkes Indiz für Brownes paranormale Begabung. Aber die Krankheit selbst bekäme dadurch keine zusätzliche Bedeutung.
Vassula Ryden
Vassula Ryden (geb. 1942), der orthodoxen Kirche angehörig, glaubt seit 1985 mit übernatürlichen Wesen wie ihrem Schutzengel, Gott Vater, Jesus, Maria aber auch dem Teufel in Kontakt zu sein[9]. Die dabei empfangenen Botschaften sind aufgezeichnet in ihrem mehrbändigen Werk „Wahres Leben in Gott“. Diese Botschaften ist Vassula durchgegangen, um nach Prophezeiungen für die Geschehnisse um Covid-19 zu suchen und hat dabei reiche Funde gemacht. Diese hat sie in einem Aufsatz am 28. März 2020 ins Netz gestellt[10]. So sah sie z.B. am 4. Mai 1988 in Verbindung mit der von Jesus ausgesprochenen Warnung, die Zeit sei fast vorbei, „einen heißen, tödlich giftigen, starken Wind über uns und die Natur blasen. Wo er durchzog, hinterließ er nur Tod. Alles was er berührte wurde Tod (sic!) zurückgelassen.“ Wer diesen Wind eingeatmet habe, sei von innen angezündet worden. Für Vassula bezieht sich das auf die Covid-19-Krankheit, die die Lungen befalle und zum Tod führe. Gleichzeitig habe es aber auch eine kosmische Bedeutung und zeige spätere Ereignisse an, die den ganzen Planeten betreffen würden. An diesem ersten Versuch Vassulas, ihre Botschaften auf die Covid-19-Krise zu beziehen, mag man mit einigem guten Willen Parallelen zwischen der Vision und der heutigen realen Situation sehen. Was dann in ihrem Aufsatz aber folgt, sind unspezifische Androhungen von Kollektivstrafen, bei denen man bei unbefangener Lektüre kaum auf die Idee kommt, dass hier von einer Seuche die Rede sein könnte.
Wir stehen hier vor einer christlichen Variante dessen, was ich in seiner eher esoterischen Form am Schluss des Abschnitts über Nostradamus beschrieben habe. Für Vassula Ryden und ihre Anhängergemeinde steht fest, dass wir heute in einer endzeitlichen Situation leben, in den „Tage(n), die dem Kommen des Herrn vorangehen“. Angezeigt wird diese Endzeit mit von Gott über die Menschheit verhängten Katastrophen, die dem Ende vorhergehen. Die Covid-19-Pandemie ist eine solche, und Vassula will sie in ihren angeblichen Offenbarungen längst konkret vorhergesehen haben. Diese Prophezeiungen seien ein Beweis dafür, dass Vassula mit ihren Offenbarungen richtig liege. Von diesen gegenseitig sich tragenden Annahmen sind Vassula-Fans so überzeugt, dass sie nicht sehen, dass die Parallelen zwischen den Prophezeiungen und den Fakten um Covid-19 dünn sind.
Prophetie im theologischen Sinn
Aus der Sicht der Theologie redet ein Prophet / eine Prophetin in erster Linie in die Gegenwart hinein und deutet sie aus dem Geist Gottes, der ihm / ihr in besonderer Weise geschenkt ist. Oft ist damit ein Ruf zur Umkehr verbunden. Die prophetische Botschaft ist immer auch in die Zukunft gerichtet: Sie verheißt denen, die auf sie hören, Heil, droht aber oft auch denen, die sich ihr verschließen, Unheil an. Das geschieht in sehr konkreten Bildern, die aber nicht als wörtliche Vorausschilderung von eins zu eins zu erwartenden Ereignissen zu verstehen sind. Sie zeigen in symbolischer Redeweise kommendes – sich letztlich erst durch den Tod hindurch erfüllendes – Heil und Unheil an. Es kann aber durchaus sein, dass in solchen Botschaften auch hellsichtig vorhergesehene Einzelereignisse mitenthalten sind, dann nämlich, wenn dem Propheten / der Prophetin die entsprechende Fähigkeit geschenkt ist. Diese ist eine zwar geheimnisvolle, aber natürliche Gabe und, wie oben beschrieben, fehleranfällig. Eine durch sie ermöglichte konkrete, hellsichtige „Prophezeiung“, die in einer prophetischen Botschaft enthalten ist, ist gerade nicht das Wesentliche dieser Botschaft.
Solche Prophezeiungen, die sich wie die besprochene bei Vassula auf Covid-19 beziehen, werden von manchen Personen als „Offenbarungen“ oder „Privatoffenbarungen“ weiterverbreitet. Diese Bezeichnungen sollen ihre Wahrheit und Bedeutung unterstreichen. Zum einen gilt hier das oben Gesagte. Darüber hinaus ist festzuhalten, dass selbst eine kirchliche Anerkennung einer solchen Botschaft nichts über deren Wahrheitsgehalt aussagt. Festgestellt würde in einem solchen Fall nur, dass ihre Aussagen der in der Bibel bezeugten mit Jesus Christus abgeschlossenen Offenbarung nicht widersprechen.