Atheistische Vereinigungen
In einer zunehmend säkularer werdenden Gesellschaft entsteht abseits organisierter Religionen sowie individuell gelebter, religiöser Spiritualität ein breites Betätigungsfeld für ein neues Bewusstsein für Skepsis und Laizität. In Österreich werden ca. zwei Millionen Menschen ohne religiöses Bekenntnis geschätzt, das entspricht etwa einem Viertel der Gesamtbevölkerung. Die Frage, wie viele Menschen einer atheistischen Weltanschauung anhängen, kann mit einer Schätzung von etwa vier Prozent der Gesamtbevölkerung beantwortet werden.
Die atheistische Position arbeitet sich intellektuell zwar an ihrer Gegenposition, dem Glauben an Gott, ab, unabhängig davon vertritt sie jedoch meist naturalistische Überzeugungen. Verbunden mit der Wertschätzung der universellen Menschenrechte liegt der Schwerpunkt heute zunehmend auf der ethischen Grundlegung der Lebensgestaltung. Tier- und Umweltschutz sind wichtige Elemente einer modernen humanistischen Praxis, wie auch Lebenshilfe durch sinnstiftende Rituale und Beistand in schwierigen Lebenssituationen - auch beim selbstbestimmten Sterben. Auf hedonistische Motive allein lässt sich heute der Kirchenaustritt bzw. die Attraktivität des atheistischen Lebensstils nicht mehr zurückführen. Säkulare Anschauungen haben eine soziale Dimension angenommen und sind keine reine Privatsache mehr. Das zeigt nicht zuletzt der Versuch, den Atheismus kirchenähnlich zu gestalten. Auch Religion wird nie nur eine Privatangelegenheit sein können.
Der Humanistische Verband Österreich (HVÖ; www.humanisten.at), vormals Freidenkerbund Österreichs, wurde 1887 im sozialistisch geprägten Arbeiterumfeld gegründet und forderte (Schul-)Erziehung ohne Religion sowie die Feuerbestattung. Nach dem Verbot 1933 erfolgte die Neugründung 1948. Richtungsstreitigkeiten und die Loslösung von der Sozialistischen Partei machten 1978 einen Neustart des Vereins notwendig - jetzt mit dem Beinamen „Institut für wissenschaftliche Weltanschauung“. Die Einführung der Zivilehe und die Möglichkeit zur Ehescheidung waren für den Freidenkerbund wichtige politische Errungenschaften. Der Schwerpunkt seiner Arbeit lag auf der Erwachsenenbildung. 2006 bot der Bund neben Atheist:innen, Agnostiker:innen und säkularen Humanist:innen auch Freireligiösen (d.h. die unter keinem kirchlichem Einfluss stehen) eine Mitgliedschaft an. Damit wurde der Faden zu den historischen Ursprüngen der Freidenkerbewegung und zu den englischen Wurzeln hergestellt. Dies führte jedoch zur Ablösung der oberösterreichischen Landesgruppe aus dem Bund. Im Juni 2018 erfolgte die Umbenennung des Freidenkerbundes in „Humanistischer Verband Österreich“. Die europaweite Vernetzung förderte die Angleichung an eine einheitliche Bezeichnung und auch eine neue Ausrichtung. Als zentrales Anliegen rückt der moderne Humanismus in den Vordergrund der Verbandsarbeit; die Schwerpunkte sind: eine konfessionsfreie, humanistische Ethik, eine darauf aufbauende, pragmatisch ausgerichtete Lebensauffassung und eine durch klare Werte und durch evidenzbasiertes Wissen geprägte evolutionäre Weltanschauung.
Der Freidenkerbund Österreich (FDBÖ; www.diefreidenker.at) wurde nach Umbenennung des Freidenkerbundes in „Humanistischer Verband Österreich“ (HVÖ) von Personen gegründet, die diese Veränderung nicht mittragen wollten. Das altvertraute Vereinssymbol, das Stiefmütterchen (franz. pensée), wird weiterverwendet; es erinnert an das Motto der Bewegung: Denken statt Beten. Der „neue“ Freidenkerbund bleibt der traditionellen Zielrichtung von Laizität, Ideologie- und Religionskritik treu. Laizität bedeutet individuelle Religionsfreiheit ohne irgendwelche staatlichen Privilegien für Religionsgemeinschaften. Die Ideale der Aufklärung werden primär im Rahmen der Bildungsarbeit und der Wissensvermittlung bewusstgemacht.
Die Allianz für Humanismus und Atheismus (AHA; www.atheisten.at) trennte sich bereits im Jahr 2006 vom traditionsreichen Freidenkerbund, da sie eine dezidiert atheistische und politisch aktive Vereinigung sein wollte. Die AHA umfasst die ehemalige oberösterreichische Landesgruppe des Freidenkerbundes, die erst 1988 entstanden ist, und erhob den praktischen Humanismus zum zentralen Wert des Atheismus.
Die Regionalgruppe Österreich der Giordano-Bruno-Stiftung (GBRÖ) existiert seit 2009. Sie ist kein eigenständiger Verein. Die Anhänger orientieren sich an der deutschen „Stiftung zur Förderung des evolutionären Humanismus“ (http://giordano-bruno-stiftung.de). Diese wurde 2004 gegründet und belebte bzw. spaltete durch ihre klare atheistische Offensive nicht nur die bestehenden Gruppen, sondern setzte auch Trends zu neuen Initiativen. Der Deutschlandsprecher ist Michael Schmidt-Salomon, ein durch einschlägige Buchveröffentlichungen bekannter Autor, und ihr Österreichsprecher war Niko Alm, der durch seine öffentlichkeitswirksamen Auftritte und seine Plakatkampagnen bekannt wurde. Heute, im Jahr 2021, existiert nur ein Facebook-Auftritt der Regionalgruppe (https://www.facebook.com/GiordanoBrunoStiftung/).
Die Säkulare Flüchtlingshilfe – Österreich (https://atheistrefugeesaustria.wordpress.com/) wurde 2019 mit Unterstützung der gleichnamigen deutschen Unternehmung (www.atheist-refugees.com) in Österreich eingerichtet. Mit dieser Initiative, die die heikle Situation religionsfreier Asylsuchender, wie zum Beispiel von Ex-Muslim:innen, in den Blick nimmt, wird praktizierte humanistische Lebensführung mit praktischer Lebenshilfe verknüpft.
Die Atheistische Religionsgesellschaft in Österreich (ARG; https://atheistisch.at/) stellte am 30. Dezember 2019 einen Antrag auf Registrierung als religiöse Bekenntnisgemeinschaft nach dem seit 1998 bestehenden „Bundesgesetz über die Rechtspersönlichkeit von religiösen Bekenntnisgemeinschaften“ (BekGG). Gegen den elf Monate später erhaltenen ablehnenden Bescheid der Kultusbehörde brachte die ARG Beschwerde ein. Die Angelegenheit wurde an das Verwaltungsgericht Wien übermittelt. Der Appell der Atheist:innen, als Weltanschauungsgemeinschaft nach einem für religiöse Gemeinschaften geltenden Recht gleichfalls eine staatliche Anerkennung zu erlangen, könnte im Gegensatz zum Freiheitsstreben der Aufklärung als Rückschritt wahrgenommen werden. Die ARG aber ist überzeugt, damit einen gesellschaftlichen Wandlungsprozess darüber anzustoßen, Religion gewohnheitsmäßig mit einer ursprünglich göttlichen Initiative gleichzusetzen. Die ARG sieht in Gott bzw. den Göttern einen menschlichen Entwurf, der dem gesellschaftlichen Leben und der menschlichen Kultur entspringt; als Religion wertet sie vor allem das Moment praktischer Lebenshilfe.
Die Initiative Religion ist Privatsache (RIP; www.religion-ist-privatsache.at) sucht seit ihrer Gründung 2010 Religion aus öffentlichen Einrichtungen zu verbannen, denn Religion in diesem Raum führe zur Diskriminierung von Konfessionsfreien. Die Initiative strengt einen Weg durch alle Rechtsinstanzen an, um ein Kreuzverbot oder die Streichung des Religionsunterrichts vom Lehrplan zu erwirken. Eine eigens eingerichtete „Meldestelle“ gegen religiöse Bevormundung soll entsprechende Diskriminierungsfälle sammeln. Die Initiative hat bezüglich Medienpräsenz in Österreich wohl die größte Reichweite von allen laizistischen Vereinigungen.
Der Verein Atheisten Österreich (https://avoesterreich.at) setzt sich für ein säkulares Österreich ein; er möchte religiöse Einflüsse auf die Gesellschaft und den Staat eindämmen und Religionsfreiheit allein auf den privaten Raum beschränken. Seit seiner Gründung zur Jahreswende 2018/19 bietet er Austauschtreffen und Hilfsangebote für nichtreligiöse Menschen an. Der junge Verein zählt nach eigenen Angaben bereits über hundert Mitglieder.
Der Zentralrat der Konfessionsfreien (ZrK; auch: Die Konfessionsfreien; https://www.facebook.com/konfessionsfrei/) startete im Jahr 2009 mit dem Versuch, säkulare Einrichtungen in einer Interessensvertretung zu bündeln. Das Anliegen wird bis heute nur von drei Organisationen dauerhaft mitgetragen: dem Humanistischen Verband, der Allianz AHA und der Initiative RIP. Kurzzeitig beteiligten sich auch kleinere humanistische Vereinigungen daran. Die rechtliche Gleichstellung konfessionsloser mit religiösen Bürger:innen und die Errichtung eines Ethikunterrichts für alle Schüler:innen sind grundlegende Forderungen, ebenso die Abschaffung der staatlichen Anerkennung von Religionssystemen und anderer Kirchenprivilegien. Auch sucht der Zentralrat die Rechte von Skeptiker:innen und Konfessionsfreien zu schützen.
Wolfgang Mischitz, 2021
Alle im Text angegebenen Links wurden am 07.09.21 aufgerufen.