Manche glauben, was ihr Guru glaubt
Samstags um 11.00 Uhr gibt es für Ulrike und ihre Freundin Sabine nur einen Termin: Brunch bei Klaus im örtlichen Café. Eine liebgewordene Tradition, die sie schon seit vielen Jahren pflegen; nicht zuletzt wegen Klaus, dem Besitzers des Cafés, mit dem sie schon gemeinsam die Volksschulbank gedrückt haben.
Doch diesmal scheint die Stimmung im Lokal eine andere zu sein. Irgendwie hat Uli, wie Ulrike von jedem im Ort genannt wird, den Eindruck, dass sie von den anderen Gästen beobachtet, ja noch schlimmer: dass über sie getuschelt wird. Schon komisch. Und dennoch beschlich sie bereits zwei Tage zuvor ein merklich ungutes Gefühl, als sie von der Veranstaltung im Gemeindezentrum nach Hause ging.
Dabei hatte alles ganz harmlos begonnen. Uli wurde von Silke, einer Arbeitskollegin, voller Begeisterung überredet, auch ins Gemeindezentrum mitzukommen. „Ein Schamane, der Kranke heilen kann, ist dort heute live zu Gast“ – so die Sensationsankündigung von Silke. Uli hatte am Donnerstagabend nichts Besonders vor und so begleitete sie Silke.
Der Saal war mit 120 Personen bis auf den letzten Platz gefüllt. Bei Veranstaltungen in ihrem Ort nichts Alltägliches. Der Vortragende, ein 70jähriger Mann mit langem, weißem Haar, stellte sich kurz vor. Locker und lässig erzählte er davon, was ihm im Leben so alles widerfahren sei, wie er den Schamanismus kennengelernt habe und so weiter.
Und dass er keinesfalls ein Heiler sei – nur damit da keine Missverständnisse aufkämen. Dann erklärte er, dass er an den Handflächen seines Gegenübers die Ursache(n) für dessen Krankheiten erkennen könne. Ab diesem Zeitpunkt gab es für viele im Saal kein Halten mehr. Gerhard meldete sich als Erster und erzählte von seinen Nierenproblemen. Der Referent holte ihn nach vorne, lud Gerhard ein, ihm seine Handrücken zu zeigen und erkannte in diesen sofort einen Vaterkonflikt in den ersten sieben Lebensjahren. Sein Befund lautete unmissverständlich: „Dein Vater wollte dich nicht!“ Das betroffene Schlucken der restlichen Teilnehmer*innen war deutlich wahrnehmbar.
Die Nachbarin von Uli, die seit vielen Jahren mit Lungenproblemen kämpft, erfuhr auf diese Weise, dass ihr ein Mutterkonflikt keine Luft zum Atmen lasse. Der Referent lud sie ein, die Augen zu schließen und bezüglich des Verhältnisses zu ihrer Mutter so weit wie möglich in die Kindheit zurückzudenken. Die angespannte Stille im Raum wurde plötzlich durch ein lautes Klatschen zerrissen. Mit diesem hatte der Vortragende das Problem gelöst, wie er den staunenden Zuhörer*innen erklärte. Doch damit der Behauptungen nicht genug: Ein Tumor könne beispielsweise durch das Essen einer rohen Zwiebel bekämpft werden. Mit diesen und anderen Unglaublichkeiten nahm die Stimmung im Saal ordentlich an Fahrt auf. Nach und nach gaben die Anwesenden Geheimisse zu ihrem Wohlbefinden preis, von denen bis dato niemand wusste und die in manchen Fällen wohl besser ungesagt geblieben wären.
Und schließlich fragte auch Uli den Vortragenden, was es denn mit ihren Unterleibsproblemen auf sich habe. Seine Antwort kam umgehend: „Du liebst dich selbst zu wenig, was aus einer Verletzungen der Seele innerhalb der ersten drei Schwangerschaftsmonate resultiert. In diesem Fall hilft die Spiegelübung: Setz dich vier Wochen lang täglich zehn Minuten nackt vor den Spiegel.“ Ja, genau so hatte er das gesagt.
Uli ist sich sicher, es wird über sie getuschelt. Sie legt € 10,00 auf den Tisch und verlässt auf schnellstem Wege das Café. Uli kann sich nicht erinnern, sich jemals so geschämt zu haben.