Ist jeder Mensch für sein Glück selber verantwortlich?
Pauls Mutter ist verzweifelt. Zwar könnte sie ihrem Sohn die € 2.500 borgen, um die er sie letzte Woche gebeten hat, aber die ganze Geschichte ist ihr einfach nicht geheuer.
Begonnen hat alles vor gut einem Jahr. Nach erfolgreich bestandener Matura begann Paul sein Studium. Der Start in den neuen Lebensabschnitt gelang gut. Paul fand aufgrund seines offenen Wesens im Studentenheim schnell neue Freunde. Und an drei Abenden pro Woche jobbte er als Kellner in einer bekannten Bar. Das verdiente Geld sparte er größtenteils für sein erstes Auto.
Ob ihm der Job denn Spaß mache, wollte eines Abends völlig unvermittelt ein junger Mann im Lokal wissen. Schließlich habe er, Manuel, auch einmal so angefangen. Paul stieg auf die Bemerkung von Manuel ein und ein folgenreiches Gespräch nahm seinen Lauf. Manuel erklärte Paul, dass er seit mehreren Jahren äußerst erfolgreich im Bereich Netzwerk-Marketing tätig sei. Zusätzlich zum fixen Einkommen von knapp € 5.000 im Monat – auf die Hand wohlgemerkt –, könne er sich heute seine Arbeitszeiten quasi selbstständig einteilen. Studentenjobs seien für ihn längst kein Thema mehr und ob er sein Studium überhaupt noch einmal fortsetzen werde, sei für ihn mehr als fraglich.
Pauls Mutter kann sich noch gut an das Telefonat am darauffolgenden Tag erinnern. Ihr Sohn habe förmlich vor Begeisterung gesprüht. „Mama“, frohlockte er, „stell dir vor, so viel Geld bekomme ich in keinem anderen Job. Und das nur, indem ich Menschen für ein Produkt begeistere!“
Paul hat in der Zwischenzeit sein Studium auf Eis gelegt. Aus dem extrovertierten jungen Mann mit dem fröhlichen Wesen ist ein Getriebener geworden, der nur mehr darauf fokussiert ist, weiterzukommen, es zu schaffen. Und das werde er auch, wie er auch seiner Mutter immer wieder versichert.
Sämtliche Ersparnisse als Kellner stehen mittlerweile in Form von zig Kartons, gefüllt mit Dosen eines „ganz neuen und hippen“ Energy-Drinks, im Keller. Diese müsse Paul erst einmal an die Frau/an den Mann bringen, dann würde seine Kariere so richtig Fahrt aufnehmen – so hat es der Leiter des letzten Seminars Paul versichert. Und der müsse es ja schließlich wissen, denn seine Homepage ist gespickt mit Fotos und Videos, die ihn am Steuer von Luxusautos, an den schönsten Stränden der Welt und stets umringt von Models zeigen. „Immer schön dranbleiben, denn der Zweite ist der erste Verlierer“, so sein Credo.
Die Zahl der Seminare und Workshops, die Paul besuchen soll, steigert sich stetig. Auch der Preis dieser Veranstaltungen. Und jetzt steht eben dieses besonders wichtige Meeting in Deutschland an. Dort treffen sich die Macher der Macher, die, die es geschafft haben. Wer dort fehle, sei automatisch Zweiter.
Die Kosten für dieses Wochenende belaufen sich auf € 2.500. Pauls Mutter ist verzweifelt. Zwar könnte sie ihrem Sohn das Geld, um das er sie letzte Woche gebeten hat, borgen, aber die ganze Geschichte ist ihr einfach nicht geheuer.