Eine Wahrheit unter vielen?
Seufzend steht Frau M. am Fenster und blickt auf die Straße. Immer mehr Menschen versammeln sich auf dem Platz vor ihrem Wohnhaus. „Jetzt findet schon wieder eine Demonstration statt. Ich bin schon gespannt wogegen heute protestiert wird!“ denkt sie sich, während sie die Menge etwas genauer beobachtet.
Auf den ersten Blick ist gar nicht zu erkennen, was der Grund der Demonstration sein könnte. Menschen aus allen Bevölkerungsgruppen sind vertreten: Frauen mit Kindern, ältere und jüngere Menschen, es ist eine bunt zusammengesetzte Menge, die sich hier versammelt hat. Plötzlich fällt ihr eine Gruppe von Personen auf, die ganz anders aussehen als der Rest der Menge. Auch sie halten Plakate in die Höhe: „Es gibt nur eine Wahrheit! Folgt der einen Wahrheit!“. Langsam löst sich diese Gruppe auf und verteilt sich unter den anderen Menschen. Frau M. bemerkt, dass sie in Zweiergruppen auf Einzelpersonen zugehen und das Gespräch mit ihnen suchen. Sie verteilen Zettel und kleine Hefte, aber Frau M. kann nicht erkennen, was darauf geschrieben steht – sie merkt nur dass sich die Stimmung ändert. Viele Menschen betrachten die Zweiergruppen aus der Entfernung, und die meisten halten mehr Abstand als zu den anderen Demonstrierenden. Plötzlich hört sie eine Person, die mit zwei Personen aus der Gruppe gesprochen hat, rufen: „Was wollt ihr denn mit eurer einen Wahrheit? Die gibt es ja gar nicht!“ Zunächst erntet sie irritierte Blicke von den anderen Demonstranten, doch langsam fangen einige Leute an, ihr Beifall zu spenden. Auch die Gruppe mit den Plakaten ist verwundert über diese Reaktion. Außerdem sind jetzt nicht mehr sie es, die die Leute ansprechen, sondern die Leute fangen an mit ihnen über ihre Plakate zu diskutieren.
Frau M. sieht, dass sich die Personen mit den Plakaten „Es gibt nur eine Wahrheit“ nicht mehr allzu wohl inmitten der Menschenmenge fühlen. Mit unsicheren Blicken sehen sie sich an, und einige deuten mit einer Handbewegung in Richtung U-Bahnstation. Kurz darauf senken sie ihre Plakate und verlassen die Demonstration. „Das war aber ein kurzes Gastspiel der „einzigen“ Wahrheit“, denkt sich Frau M., schließt das Fenster und widmet sich wieder ihren anderen Aufgaben.